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Die Alternative History der USA

Washington quert den Delaware. Diese ikonische Szene ist ein beliebtes Ereignis der Alternative History

Alternative History befasst sich mit den „Was wäre wenn“-Fragen der Geschichte und zeigt damit, dass der Weg in unsere Gegenwart eben nicht zwangsläufig war. Dieser Gastbeitrag stammt vom promovierten Historiker Bastian Vergnon, der sich auf seinem Blog „Ankerpunkte“ regelmäßig mit Alternative History beschäftigt. Die Informationen aus dem Artikel stammen aus seinem Beitrag „28 Punkte, an denen die Geschichte der USA anders verlaufen wäre“. Mehr über Ankerpunkte erfährst du auch auf Facebook oder Instagram. Viel Spaß!

Als Joe Biden am 20. Januar 2021 vereidigt wurde, war weltweit die Erleichterung spürbar. Vergessen war aber, dass seine Wahl nicht von vorne herein selbstverständlich war.  Als Joe Biden 2019 seine Kandidatur für die Vorwahlen der Demokraten erklärte, war er keineswegs der unumstrittene Favorit innerhalb der Partei. 2019, also vor Corona, stand Donald Trump als US-Präsident mit einer noch brummenden Wirtschaft deutlich besser da als seine möglichen Herausforderer. Kurz gesagt: Es hätte es auch anders kommen können und eventuell wäre dann Donald Trump am 20. Januar 2021 für eine zweite Amtszeit vereidigt worden.

Mit solchen hypothetischen „Was-wäre-wenn“-Fragen beschäftigt sich das Feld der Alternative History. Ausgangspunkt ist ein historisches Ereignis oder eine Entscheidung in der Vergangenheit, die großen Einfluss auf den weiteren Gang der Geschichte hatte. Davon ausgehend spinnen Historiker nicht nur hypothetische Szenarien für „alternative“ Verläufe der Geschichte. Sie machen sich auch klar, dass für die damaligen Menschen die Entscheidungen für die Zukunft offen waren und keineswegs zwangsläufig auf „unsere“ Gegenwart hinausliefen.

Alternative History: Ein hilfreiches Gedankenexperiment

Besonders „knappe“ Entscheidungen in der Geschichte bieten Möglichkeiten für solche Szenarien und Analysen. Wechselreiche Kriege und Schlachten, harte Vertragsverhandlungen, knappe Regierungswechsel, plötzliche Entdeckungen, unerwartetes Erscheinen oder Verschwinden von einflussreichen Persönlichkeiten oder schnell auftretende Krisen.

In der Geschichte der USA ist die Schlacht von Gettysburg das in der Literatur beliebteste und bekannteste Beispiel: Was wäre gewesen, wenn die Konföderierte Armee eine der entscheidenden Schlachten des Bürgerkriegs gewonnen hätte? Eine bei Gettysburg siegreiche Konföderation hätte die US-Hauptstadt Washington einkesseln, eventuell sogar erobern und der Union einen Frieden diktieren können. Ein so dauerhaft gespaltenes Nordamerika hätte der Weltgeschichte sicherlich eine andere Entwicklung beschert.

Doch für Szenarien der Alternative History bietet die Geschichte der USA noch weitere Möglichkeiten.

Wechselreiche Kriege und Schlachten

Im Winter 1776 war der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg fast zugunsten der Briten entschieden. Vor allem gegen die kampfstarken deutschen Söldnertruppen schienen die amerikanischen Rebellen chancenlos. Einen Zusammenbruch verhinderte der amerikanische Oberbefehlshaber George Washington nur durch ein waghalsiges Manöver. Mitten im Winter, in dem die Armeen normalerweise nur Quartiere bezogen und sich stillhielten, überquerte er den fast zugefrorenen Fluss Delaware und schlug in einem überraschenden Sieg in der Schlacht von Trenton die deutschen Söldnertruppen der Briten. Das Bild „George Washington überquert den Delaware“ gehört seitdem zu den Ikonen des Amerikanischen Unabhängigkeitskriegs und der US-Geschichte.

Harte Vertragsverhandlungen

1848 hatten die USA im Amerikanisch-Mexikanischen Krieg Mexiko vernichtend geschlagen. Die US-Regierung war davon so euphorisiert, dass sie nicht nur plante, jenes Gebiet zu annektieren, auf dem heute zum Beispiel die Bundesstaaten Kalifornien oder Arizona liegen, sondern auch alle Provinzen, die heute Nord-Mexiko bilden. Allerdings gerieten die Friedensverhandlungen in den Sog der Sklaverei-Frage in den USA. Daher gab es eine heftige Opposition gegen die Annexion weiterer Gebiete, in denen die Sklaverei erlaubt war. Dieser Widerstand führte am Ende dazu, dass sich die USA größtenteils auf die heute Grenze beschränkten.

Knappe Regierungswechsel

1960 war die Wahl des charismatischen und vor allem durch das Attentat auf ihn legendären John F. Kennedy zum US-Präsidenten unglaublich knapp. Zwar hatte der junge Senator viel Geld und eine professionelle Wahlkampfmaschinerie hinter sich. Aber bei der Kandidatenauswahl der Demokraten konnte er sich erst nach Siegen in den Vorwahlen gegen das damals noch entscheidende Parteiestablishment durchsetzen. Dieses hatte ihn bis zum Nominierungsparteitag als „politisches Leichtgewicht“ eingeschätzt und bekämpft. Auch die eigentliche Präsidentschaftswahl war am Ende mehr als knapp. Erst Ereignisse wie das erste TV-Duell gegen den Gegenkandidaten und früheren Vizepräsidenten Richard Nixon sorgten dafür, dass die Stimmung überhaupt für Kennedy kippte. Dennoch hätten nur minimal andere Ergebnisse in ein paar Bundesstaaten zu einem anderen Präsidenten geführt.

Plötzliche Entdeckungen

Als die Sowjetunion 1957 den ersten Satelliten Sputnik ins All schickte, löste dies vor allem bei US-amerikanischen Medien, im Militär und in der Politik Beunruhigung aus – den sogenannten „Sputnik-Schock“. Darunter verstand die Elite der Gesellschaft einen angeblichen Rückstand der USA bei Rüstung, Forschung und Bildung. Für die breite Bevölkerung war dies aber kein wichtiges Thema und auch Präsident Dwight D. Eisenhower sah den „Sputnik-Schock“ zuerst gelassen. Doch als die schockierten Medien, Militärs und Politiker immer mehr Druck auf ihn ausübten, beschloss er zur Beruhigung der Öffentlichkeit mehrere milliardenschwere Programme aufzulegen. Zu den Ergebnissen dieses Kurswechsels zählten die Gründung der NASA und von Forschungsinstituten, die in den nächsten Jahrzehnten etwa die Grundlagen für das heutige Internet legten.

Unerwartetes Erscheinen oder Verschwinden von einflussreichen Persönlichkeiten

1919 war der Beitritt der USA zum neu gegründeten Völkerbund hoch umstritten. Grob gesagt standen sich der Präsident Woodrow Wilson, der für einen Beitritt kämpfte und schon die Gründung des Völkerbunds mit forciert hatte, und eine Mehrheit im Senat, die dieses Engagement skeptisch sahen, gegenüber. Wilson wollte die Entscheidung mit einer Werbekampagne im ganzen Land suchen. Dabei erlitt er aber einen schweren Schlaganfall. Doch erst die Entscheidung seiner Frau, diesen zu verheimlichen, führte zum Konflikt mit dem Senat. Denn als der Präsident aus der Öffentlichkeit verschwand und Verhandlungsangebote nicht beantwortete, sahen dies die Senatoren als Affront. Sie lehnten schlussendlich den Beitritt der USA zum Völkerbund ab, was maßgeblich zu dessen Scheitern führte.

Plötzlich auftretende Krisen

Als am Morgen des 11. Septembers 2001 mehrere entführte Flugzeuge die bekannten Anschläge verübten, war die Öffentlichkeit auch durch die unerwartete Natur dieser Krise schockiert. Dabei hatten beim Betreten der Flugzeuge mehrere Alarme angeschlagen und teilweise waren die islamistischen Terroristen auch kontrolliert, aber nicht aufgehalten worden. So löste 9/11 nicht nur dramatische Verwerfungen in der US-Politik, vor allem beim Thema Sicherheitsgesetze, aus, sondern hatte durch den anschließenden „Krieg gegen den Terror“ mit den Invasionen in Afghanistan und dem Irak weitreichende Folgen für die ganze Welt.

Der Sinn von Alternative History

Gerade an diesen Beispielen der US-Geschichte zeigt sich der Nutzen von Alternative History. Durch eine Ausweitung des Blickwinkels auf die tatsächlichen und möglichen Entwicklungen der Geschichte, finden Historiker heraus, dass diese eben nicht alternativlos auf ein Ergebnis zuliefen. Die Geschichte der USA hätte sich mehrfach ohne große Probleme in eine andere Richtung bewegen können. Sie beweist so, dass auch die Gegenwart und Zukunft, nicht nur der USA, sondern überall, niemals alternativlos ist.

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