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Die Anti-Corn Law League: als Freihandel noch revolutionär war

Corn Law Propaganda

„Freihandel, oh Schreck!“ So geht es heute vielen. Es ist ja auch modern, gegen Freihandelsabkommen wie TTIP und CETA zu sein. Das hat so etwas Rebellisches an sich. Man lehnt sich gegen das System auf, nimmt eine kritische Haltung ein und so weiter. Das hat schon was. Aber: Auch der Freihandel war mal radikal und sogar revolutionär! Es gab in der Geschichte nämlich Zeiten, da liefen NGOs nicht Sturm gegen irgendwelche Freihandels-Deals. Sie kämpften für diese! Um eine dieser „NGOs“ soll es heute gehen: die englische Anti-Corn Law League.

Freihandel und Liberalismus: die kleinen Anfänge

Wenn man über Entwicklungen des 19. Jahrhunderts redet, ist ja meistens von Großbritannien die Rede. Ist auch klar. Wir reden hier über die Blütezeit des britischen Empires! Damals kontrollierte diese kleine Insel immerhin ein Viertel der Welt. Man erfand im Alleingang die Industrialisierung und so ganz nebenbei, und zögerlich, auch den Wirtschaftsliberalismus. Die Folgen davon sind heute überall. Liberalismus und Freihandel sind zu Grundpfeilern der westlichen Welt geworden. Revoluzzer wird man dementsprechend, indem man sich dagegen auflehnt. Oder man wird einfach Punk, kauft sich um 10 Uhr morgens eine Dose Bier und stellt sich zum Bahnhof… Aber gut. Unterstellen wir mal, die lehnen sich auch auf. Gegen das System und so.

In der Geschichte sah die Sache aber schon mal ganz anders aus! Für lange Zeit war Freihandel nämlich der erklärte Feind der Konservativen aller Länder und für diesen einzutreten war wahrlich revolutionär! Willkommen im frühen 19. Jahrhundert. Als die Weichen für heute gestellt wurden.

Die Corn Laws: und wen schert’s?

Was taten die Konservativen in den 1820er-Jahren also, wenn sie nicht wie heute für irgendwelche Freihandelsabkommen eintraten und ihrem Geld beim Wachsen zusahen? Nun ja, sie saßen auf ihren Landsitzen und schauten eben dort dem Geld beim Wachsen zu. Die englische politische Klasse der Zeit ja noch fast ausschließlich adelig. Und der Adel verdiente sein Geld nun mal mit seinem geerbten Landbesitz. Das war für die Barone und Grafen ein wunderbares System. Sie saßen an der guten Luft, ließen Leute für wenig Geld ihr Land bestellen, wählten sich dann gegenseitig ins Parlament und traten dort für den Erhalt genau dieses Systems ein. Was soll da auch schiefgehen?

Nun, das Problem dabei: Beim Rest der Bevölkerung lief es eben nicht so gut. Mit der Industrialisierung hatten sich in Großbritannien ja ganz neue Klassen herausgebildet. Plötzlich gab es da die wohlhabende Bürgerschicht und – noch viel schlimmer – die niederen Arbeiter. Die waren mit dem Status quo natürlich überhaupt nicht einverstanden. Ein besonderes Problem hatten sie dabei mit den sogenannten Corn Laws. Das waren strikte Einfuhrbestimmungen und Zölle auf ausländisches Getreide. Man nahm nun an, dass wegen dieser Gesetze das britische Brot zu teuer war. Und Arbeiter nagten ja schon damals am Hungertuch, natürlich war billigeres Brot da keine schlechte Aussicht. Für die bürgerlichen Industriellen andererseits war billigere Brot genauso wünschenswert. Wäre Brot günstiger, müssten sie ihren Arbeitern nämlich weniger bezahlen. Arbeiter- und Bürgerschaft waren sich also einig: Die Corn Laws mussten fallen! Dass zwischen ihren Motiven eine gewisse… nun ja, Diskrepanz… herrschte, hätte den Beteiligten eigentlich auffallen können. Tat es aber offensichtlich nicht.

Stellt euch vor, linke NGOs wären für TTIP und CETA

In den 1830ern nahm dieser neue Klassenkampf dann so richtig Fahrt auf. Überraschenderweise war das in der Geschichte Großbritanniens nämlich keine allzu glorreiche Zeit. Man hatte zwar Napoleon besiegt und die Industrialisierung erfunden, dennoch, oder gerade wegen der rapiden Industrialisierung, verarmten aber immer weitere Teile der Bevölkerung. Nun streue man noch ein paar üble Fehlernten mit in den Mix und schon hat man das Desaster. Die Leute waren hungrig, unzufrieden und wütend!

Jetzt hätte der Zeitgenosse (haha, Genosse…) Karl Marx sicher gern gesehen, wie die Arbeiter zur Revolution aufriefen. Das geschah aber nicht, wie es ja auch später nicht geschah. Stattdessen fanden sich in Manchester die Industriellen zusammen und gründeten 1831 die Anti-Corn Law League. Sie haben nämlich den Ursprung allen Übels sofort erkannt! Die Hungerlöhne waren nicht schuld an der Versorgungskrise. Es waren die Adeligen und ihre protektionistischen Gesetze! „Kommt, Arbeiter! Schließt euch uns an und wir reißen das Diktat der Adeligen ein!“, riefen die Industriellen also. Den Zusatz: „und dann senken wir eure Löhne ins Bodenlose“ ließen sie wohl absichtlich weg. Wäre doch auch zu kompliziert für den einfachen Arbeiter.

Die Abschaffung der Corn Laws war also tatsächlich im Interesse der Bürgerlichen wie der Arbeiter. Die Anti-Corn Law League selbst war dagegen aber ein fast rein bürgerlicher Klub. Man kann es sich wohl ohne weiteres als einen Haufen überfressener, reicher Schnösel vorstellen, der sich da in Manchester traf, um die Welt zu retten. Aber sie hatten eine Geheimwaffe: einen festen Glauben an eine Idee, deren Zeit gekommen war!

Und Geld. Das Geld hat sicher auch nicht geschadet.

Und so wurde das Lobbying erfunden…

Über die 1830er hinweg wuchs ihre Bewegung rasant an. Dank politisch gewiefter Vertreter und viel, viel Geldeinsatz konnte die Anti-Corn Law League der Gesamtbevölkerung tatsächlich weismachen, dass Freihandel die Lösung all ihrer Probleme war. Alles war doch die Schuld der Grundbesitzer! Wegen ihres veralteten Systems war das Brot so teuer. Wegen dieses Systems mussten die armen Arbeiter Hunger leiden und die noch viel ärmeren Fabrikbesitzer ihren Arbeitern so viel Geld bezahlen…

Diese Lobbying-Aktion war sogar so erfolgreich, dass die League das Gesetz zur Abschaffung der Corn Laws dann nicht mal selbst einbringen musste. Über die Zeit war ihre Idee vom Freihandel so sehr zum Mainstream geworden, dass 1846 ausgerechnet der konservative Premierminister Robert Peel das Gesetz der Abschaffung durch das Parlament brachte. Gut, er verlor direkt danach seinen Job. Die Parteifreunde am Land waren, wie sich herausstellte, doch nicht so begeistert von der Idee. Doch beim Gesetz blieb es. Und seitdem war Freihandel das Fundament der britischen Außenpolitik. Später der amerikanischen. Und wir sehen ja, wo wir heute stehen.

Eine Geschichte von Erfolg und Zufall

England sollte mit der Entscheidung die nächsten 70 Jahre über ganz gut fahren. Während kurz nach Abschaffung der Corn Laws, im Jahr 1848, in ganz Europa die Menschen auf die Barrikaden gingen, blieb es im viktorianischen Großbritannien ruhig. So, wie man es eben mochte. Es sollte auch noch ein bisschen dauern, bis die Arbeiterschaft begriff, was für einen Griff ins Klo sie mit dem Erfolg der Anti-Corn Law League wirklich gemacht hatte. Und noch ganze 40 Jahre später musste der arme Karl Marx ausgerechnet in London sterben, immer noch wartend auf die große Revolution der Arbeiter. Und wenn er nicht gestorben wäre, so wartete er noch heute.

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4 Gedanken zu „Die Anti-Corn Law League: als Freihandel noch revolutionär war“

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