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England und die Wikinger. Eine eher unangenehme Begegnung

Die Wikinger vor England

Dieser Artikel über die Wikinger in England ist ein Auszug aus meinem Buch „Endstation Brexit“.

Die britische Insel war von frühester Zeit an Einfälle von außen gewöhnt. Die Römer setzten sich dort einige Jahrhunderte lang fest und kaum waren die verschwunden, kamen auch schon die Angelsachsen. Damit sollte England aber ein für alle Mal seine Unabhängigkeit erlangt haben! Die große Inselstory sollte doch erst beginnen, die Geschichte der Festung Britannia, standfest und stark in stürmischer See, uneinnehmbar von allen … „Moment mal, was sind denn das für Schiffe am Horizont?!“ Ach ja richtig! Zur vollständigen Eroberung der britischen Insel kommen wir erst! Und jetzt geht es richtig zur Sache. Die Rede ist natürlich von den Wikingern. Innerhalb von 300 Jahren sollten diese Nordmänner England nämlich bis auf seine Grundfesten erschüttern.

Die Angelsachsen und ihre süßen kleinen Königreiche, die sie sich nach dem Abzug der römischen Truppen so sorgsam zusammengeschustert hatten, verschwanden in diesem Zeitraum fast vollständig von der Landkarte, und England war nie mehr wirklich dasselbe. Damit war die gute alte Zeit also endgültig vorbei. Das ist zumindest anzunehmen, aber vielleicht kann uns ja Nigel Farage nähere Auskunft geben … So viel sei jedenfalls verraten: Mit horntragenden, besoffenen Norwegern auf Langbooten hatte das alles wenig zu tun. Das klassische Bild der Wikinger, das wir alle aus „Wicki und die starken Männer“ gelernt haben, ist nicht ganz so akkurat, wie wir immer geglaubt haben. Die Geschichte der Wikingerzeit ist leider nicht so einfach, wie man sie oft gerne hätte. Man kann sich nicht mal mehr auf Kinderserien verlassen! Aber zurück zu den Männern aus Flake: Was trieben die da in England, außer ihre Hörner zu reinigen?

Diese Dänen hätten in England doch zumindest anklopfen können

England mag zwar auf einer Insel liegen, unangreifbar ist es deshalb aber noch lange nicht. Der Grund dafür ist nicht sonderlich überraschend: Die Feinde könnten ja auf Booten kommen! Eine revolutionäre Idee. Dass diese simple Erkenntnis die Angelsachsen auf dem falschen Fuß erwischte, ist nun doch einigermaßen peinlich. Spätestens seit den antiken Griechen viele Jahrhunderte zuvor sollte allen klar gewesen sein, dass Schiffe ein viel besseres Fortbewegungsmittel waren als Pferde und Wagen. Per Schiff konnten viel größere Mengen an Waren und Menschen – darunter gelegentlich auch Soldaten – transportiert werden, als das auf den besten Straßen möglich war. Ein Blick in die antike Geschichte macht schnell klar, wie vollkommen egal den großen Mächten schon damals das ach so trennende Wasser war. Die alten Griechen kamen mit ihren Schiffen bekanntlich an jeden Fleck des Mittelmeers und erbauten dort Kolonien. Auf der heimischen Balkanhalbinsel selbst sah die Sache dagegen ganz anders aus. Da marschierten ständig irgendwelche wilden Perser durch, die sich nun wirklich überhaupt nicht zu benehmen wussten. Die Griechen ignorierten das meist. Ein anderes Beispiel sind die Phönizier, die, aus dem heutigen Libanon kommend, schon mehrere Jahrhunderte davor so weit entfernte Kolonien wie Karthago errichtet hatten, das den Römern viele Jahre später noch so reichlich Probleme bereiten sollte, diesmal allerdings nicht nur mit Schiffen, sondern zudem mit Elefanten, die durch den Schnee in den Alpen stapften. Aber die Geschichte von Hannibal kennen Sie ja sicher. Nein, nicht der Kannibale, der andere …

Nicht nur das Mittelmeer lässt sich ganz gut besegeln. Mit etwas Geschick klappt das auch anderswo, und in der Nordsee hat eine Bevölkerungsgruppe im Frühmittelalter das eindrucksvoll unter Beweis gestellt: die Wikinger. Mit den heute so beliebten Stereotypen hatten diese historischen Seefahrer wahrscheinlich aber recht wenig zu tun. Es ist inzwischen sogar bekannt, dass sie nicht mal Hörner auf ihren Helmen trugen. Und seien wir mal ehrlich: Wenn ein Wikinger keine Hörner trägt, was ist er dann überhaupt wert? Da könnte er ja genauso gut irgendein dahergelaufener Kelte sein!

Im Frühmittelalter sollte man aber doch lieber einiges von ihnen halten. Die Wikinger verbreiteten nämlich schon bald Angst und Schrecken, wo immer sie auftauchten. Und England lag da an recht günstiger Stelle im Meer herum. Kann man es den Wikingern vorwerfen, dass sie dieses grüne, fruchtbare Land, nur eine zweitägige Fahrt entfernt, auch nutzen wollten? Jeder, der schon mal in Norwegen war, kann sich vorstellen, wie gut es da mit der Landwirtschaft lief. Da klingen die grünen, verregneten Wiesen von Sussex plötzlich richtig verlockend. Tatsächlich könnte das Klima in den Ländern ihrer Herkunft ein Grund gewesen sein, warum die bis dahin recht unauffälligen Nordmänner im 8. Jahrhundert plötzlich lossegelten, um fremde Länder zu plündern. Es ist aber auch gut möglich, dass es zu der Zeit schlicht zu einer Überbevölkerung in Skandinavien kam. Soll heißen: Die Wikingermänner hatten einfach zu viele Frauen, ergo zu viele Kinder, und somit blieben viele dieser Kinder ohne Erbe. Das gibt meist keine gute Stimmung. Doch zum Glück war da diese merkwürdige Insel etwas weiter westlich, die sich wunderbar plündern ließ. Obendrein gab es vor allem in Dänemark damals schon genug typisch europäische Herrscher, die machtgierig waren und mehr Einfluss in der Welt suchten. Eine Kombination dieser Faktoren wird es wohl gewesen sein, die die Wikinger in die Ferne trieb.

Als sie ab dem 8. Jahrhundert in kleinen Kampfgruppen ihre Länder verließen, um anderswo ihr Glück zu suchen, war England ihr erstes großes Ziel. Der Beginn der großen Wikingerzeit wird dann auch traditionell auf das Jahr 793 gelegt, das Jahr des Wikingerangriffs auf das nordenglische Kloster Lindisfarne. Gleich bei erster Gelegenheit konnten sich die Menschen jener Zeit ein ganz gutes Bild von diesen Nordmännern und ihrer Taktik machen. Eine Gruppe von Wikingern schlich sich mit ihren wendigen segellosen Booten bei Nacht an, ging auf der kleinen nordenglischen Insel an Land, stürmte das dortige Kloster, verwüstete und tötete alles und jeden, der sich ihnen in den Weg stellte, nahm mit, was die Boote tragen konnten, und noch bevor sich die Mönche überhaupt fragen konnten, was zum Teufel gerade passiert war, waren die Wikinger auch schon wieder weg und ihre Boote verschwanden langsam am Horizont.

Diese Art der Überfälle wurde in den folgenden Jahren fast schon zur Gewohnheit. Nicht nur in England, sondern auch in Irland und Frankreich tauchten diese Banden besoffener Bartträger auf, verwüsteten alles, was ihnen in den Weg kam, raubten, töteten, vergewaltigten und taten, was man als Wikinger eben so tut. Heute trifft man fast nur noch bei englischen Hooligans und Rockerclubs auf solche Umgangsformen – der Bart hat also, so könnte man glauben, eine Auswirkung aufs Sozialverhalten. Im frühmittelalterlichen Europa sollte die Sache aber noch viel schlimmer kommen. Nämlich gerade als sich die armen Engländer, Iren und Franzosen an die Überfälle gewöhnt hatten (die Menschen gewöhnen sich ja bekanntlich an alles), änderten die Wikinger ihre Taktik.

So schlimm ist es für die Wikinger also in Skandinavien?

Ab Mitte des 9. Jahrhunderts kamen die Wikinger nicht mehr nur zum Plündern zu Besuch, um sich dann kurzerhand wieder zu verziehen. Nein, nun errichteten sie plötzlich Winterlager! Anscheinend waren die Winter in Skandinavien so furchtbar, dass ein Aufenthalt in England oder Irland geradezu verlockend erschien. Hätte es den UNHCR damals schon gegeben, hätte England die Skandinavier wohl als Klimaflüchtlinge anerkennen müssen. Wobei … wahrscheinlich hätte dann irgendjemand ihre Flüchtlingsheime angezündet. Wie man die Geschichte dreht und wendet, immer muss irgendwer irgendwas in Brand setzen. Eine der ersten dauerhaften Siedlungen der Wikinger war damals übrigens die Stadt Dublin. Im Grunde können sich die Iren also gar nicht beschweren, haben sie es doch bis heute nicht hinbekommen, eine zweite richtige Stadt zu bauen.

In England konzentrierten sich die Einfälle auf den Norden und Osten des Landes, auf das heutige Yorkshire, Northumberland und Ostanglien. Das ging so weit, dass die Region von den eingesessenen Angelsachsen bald nur noch als „Danelag“ bezeichnet wurde. „Lag“ bedeutet im Altnordischen so etwas wie „Recht“, also wörtlich „Dänisches Recht“. Und tatsächlich: Schon nach kurzer Zeit herrschte in der Region skandinavische Kultur vor, es wurde in weiten Teilen Altnordisch gesprochen, und es galt eben das dänische Recht. Aber gut. Der Norden Englands war damals schon so beliebt wie heute. Ob da jetzt Skandinavier oder irgendwelche unzivilisierten Nordengländer sitzen, macht keinen großen Unterschied. Und überhaupt: Anderswo sah die Sache noch viel schlimmer aus! In Frankreich standen die Wikinger im Jahr 845 schon vor den Toren von Paris! Der dortige König Karl der Kahle hatte also andere Sorgen als seinen mutmaßlichen Haarausfall und zahlte den Eindringlingen sogar eine nette Summe, das sogenannte „Danegeld“, um sie zum Rückzug zu überreden. Wohlerzogen, wie die Wikinger waren, nahmen sie das Angebot dankend an und zogen ab – wenn auch nur für elf Jahre. Dann fielen sie erst recht in Paris ein, plünderten, brandschatzten und – wir erinnern uns – taten, was man als Wikinger eben so tut. Aber auch in England machte sich die Anwesenheit der Dänen zunehmend bemerkbar. Wir haben ja schon gehört, dass die Wikinger ein wenig dazu neigten, viele Frauen zu haben. Das bedeutete natürlich auch viele Kinder, und so dehnte sich das Danelag schnell immer weiter aus. Für die angelsächsischen Könige, vor allem in Südengland, wurde es bald zur Bedrohung.

Hier ist es an der Zeit, einen ganz großen angelsächsischen König vorzustellen: Alfred von Wessex, genannt „Alfred der Große“. Er ist übrigens der einzige „Große“ unter allen englischen Königen. Nun gut, abgesehen von – ausgerechnet – einem Dänen. Aber immer der Reihe nach. Dieser Alfred führte im 9. Jahrhundert den angelsächsischen Widerstand gegen die Wikinger oder Nordmänner oder Dänen oder wie auch immer an. Seien wir ehrlich, die Dänen aus dem Danelag waren da doch sowieso schon fast so englisch wie die Wessexer, aber Komplexität in der Migrationsdebatte funktioniert auch heute noch nicht sonderlich gut. Im 9. Jahrhundert war das nicht viel anders. Die Wikinger fühlten sich jedenfalls bedroht von den Drohgebärden Alfreds und baten zu Hause in Dänemark um Hilfe. 878 konnte Alfred jedoch das große dänische Heer in der Schlacht schlagen und nebenbei auch noch London erobern.

Da alle anderen angelsächsischen Königreiche zu der Zeit von den Nordmännern bereits unterjocht worden waren, gilt dieses Datum heute vielen als Gründungsjahr Englands. Die Könige von Wessex wurden somit zu Königen Englands. Behauptet hatte das Haus Wessex allerdings schon seit Jahrzehnten, Herrscher über ganz England oder gar Britannien zu sein, nur glaubte ihnen das keiner so recht. Es scheint aus irgendeinem Grund einfacher zu sein, zuerst gemeinsam in einen Krieg zu ziehen und die verbündeten Staaten danach zu vereinen, als es auf langweiligem Weg ohne Blutvergießen zu versuchen. Denselben Trick sollten die Preußen unter Bismarck ja noch 1871 wiederholen.

Die Tatsache, dass dieser neue Staat als England bekannt wurde, ist dabei übrigens vielsagend. Die alten sächsischen und anglischen Königreiche waren ja gerade erst untergegangen, die Namen der Sachsen und Angeln waren aber schon lange Synonyme. Die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen waren offensichtlich nicht mehr bekannt, anders lässt sich nicht erklären, wie ein König aus Wessex einen Staat namens England gründen konnte. Das ‑sex im Namen Wessex verrät uns, welchem Geschlecht Alfred entstammte. Kleiner Tipp: Liegt heute in Ostdeutschland. Das Eng- in England kommt dagegen natürlich von den Angeln. War aber auch egal. Allzu lange sollten die frischgebackenen Engländer ihr neu vereinigtes Reich ohnehin nicht genießen. Denn die Nordmänner – oder Normannen – waren noch lange nicht geschlagen.

Wie es weitergeht, fragst du? Tja, das erfährst du in meinem Buch „Endstation Brexit“. Ich erzähle darin aus neun Episoden der Geschichte – eine davon eben die Wikingerzeit – in denen sich England und der Rest Europas so richtig schön in die Haare gekommen sind. Bei all dem ist der Brexit ja fast nur eine Randbemerkung. Hier habe ich alle wichtigen Infos zu „Endstation Brexit“ für dich zusammengefasst.

6 Gedanken zu „England und die Wikinger. Eine eher unangenehme Begegnung“

  1. Hallo Ralf,

    dir ist da leider ein kleiner Fehler passiert:
    „Doch zum Glück war da diese merkwürdige Insel etwas weiter östlich, die sich wunderbar plündern ließ.“
    Die merkwürdige Insel liegt allerdings westlich von Skandinavien… – sry, ich bin Tester 🙂

    Und weil du Serien angesprochen hast, ein Tipp von mir: „Vikings“ – die Serie ist doch überraschend historisch – irgendwie haben sie es geschafft dort alle historischen Figuren, Könige, Saga-Gestallten etc. und bekannte Ereignisse mit zu verwursten…
    viele Grüße aus München

    Timo

    1. Oh Gott, das ist ja ein blöder Fehler. Der ist wohl sowohl mit als auch dem Lektor durchgegangen.. Dank dir! Ich ändere es zumindest mal im Blogpost 😉

      Danke auch für die Empfehlung! Die Serie kam mir schon ein paar Mal unter. Wird wirklich Zeit, mal reinzuschauen.

      LG aus Freising, der Mutter Münchens 😉

  2. Die Geschichte der Wikinger in England wäre sicherlich viel unspektakulärer verlaufen, hätte ein gewisser Herr Uhtred nicht ständig die Seiten gewechselt…

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